Dienstag, 6. Juni 2017

Die Arbeit der Nacht - Thomas Glavinic

"Er konnte sich nicht daran gewöhnen, auf lebendige Laute verzichten zu müssen. Wespen, Bienen, Hummeln, Fliegen waren lästige Geschöpfe, ihr Summen, ihre Aufdringlichkeit hatte er tausendfach verflucht. Das Gebell von Hunden war ihm mitunter als Teufelsgeheul erschienen, und sogar unter den Vogelstimmen gab es einige, deren Penetranz die Lieblichkeit überstieg. Aber der gnadenlosen Stille, die hier herrschte, hätte er das Sirren von Moskitos vorgezogen. Und vermutlich sogar das Gebrüll eines frei umherstreifenden Löwen." - S. 258



Verstörend. Beängstigend. Nervenkitzel pur.

Nachdem ich von „Das größere Wunder“ so begeistert war, wurde mir von einem meiner Lieblings-Instagramer*innen Flo dieses Werk empfohlen. Ich wusste durch den Klappentext, was mich erwartet: Eine Welt, in der jedes Meschen- und Tierleben plötzlich verschwunden ist. Außer Jonas. Der einzig agierende Protagonist wacht eines Morgens nichtsahnend auf. Er ist anfangs gar nicht darüber verwundet, dass der österr. Rundfunk und die Radiosender nicht funktionieren, und er niemanden mit Hilfe des Telefons erreichen kann. Nach Durstreifen völlig lebloser Straßen wartet Jonas vergeblich auf einen Bus. Und langsam dämmert es ihm, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.
... Und schon beginnt der Wahnsinn.

Ich brauchte einige Zeit, um in Jonas Welt Fuß zu fassen. Ich wollte und konnte einfach nicht mit dem Gedanken klar kommen, plötzlich eine komplett leblose Welt zu durchschreiten. Ich wollte und konnte mir ein eben solches Szenario einfach nicht vorstellen. Dann aber ließ ich die Frage "Was wäre, wenn?" zu und war plötzlich an Jonas Seite in Wien. Und fühlte mit ihm die Angst und das Ungewisse, fühlte mich allein und leer.

Spätabends und nachts das Buch zu lesen, und das ganz allein in meiner Studentenwohnung, tat mir gar nicht gut. Viele Stellen bereiteten mir Gänsehaut. Geräusche aus dem Wohnhaus und von der Straße drangen doppelt so laut und bohrend in mein Zimmer. Ich fuhr des Öfteren verschreckt zusammen. Mein Herz klopfte manches Mal wild, machte aber noch öfter kurze Aussetzer. Ich fürchtete mich teilweise wirklich. (Ein Thriller wäre mein Tod, denke ich.)

Dass ich so mit Jonas mitfühlte, seine Situation am eigenen Körper nachempfinden konnte, zeigt, was Glavinic schafft. Eine Welt, die einen mit sich zieht, ob man möchte oder nicht. Die knapp 400 Seiten schaffen wirklich ein unglaublich bedrückendes und verstörendes Szenario. Gleichzeitig beschäftigen einen aber Gedanken, die vorher nie da waren. Man erweitert seinen Horizont, ändert seine Denkmuster.

Bis zum Ende hin habe ich nicht gewusst, ob ich eine Auflösung von Jonas Situation erhalten möchte oder nicht. Das Ende habe ich schlussendlich mehr als akzeptieren können, das Buch war für mich beendet. Die Geschichte, die Ereignisse, die Gefühle blieben aber noch lange Zeit präsent. Und jedes Mal, wenn ich das Buch ansehe, kommt all das wieder hoch, was ich während der Lektüre erlebt und gefühlt habe. Schon echt arg, was 400 vollgeschriebene Seiten mit einer Person anstellen können.


Eine Auswahl an Gedanken, die mich besonders beschäftigt haben. Vor allem das Zitat von S. 337 treffen genau auf mich, eine Zukunfts-Germanistin, zu:

"Die Landschaft war dieselbe. Der Tag war derselbe. Und würde in hundert Jahren derselbe sein. Dann aber ohne Jonas.
Dies hatte ihn beschäftigt. Daß es Tage geben würde ohne ihn, daß es Tag geben würde, die ohne ihn wahrgenommen würden. Landwirtschaft und Sonne und Wellen im Wasser, ohne ihn. Jemand anderer würde es sehen und daran denken, daß schon Frührere hier gestanden waren. (...)
Doch nun?
Würde in hundert Jahren jemand den Tag  wahrnehmen? War jemand da, der durch die Landschaft spazierte und an Goethe und Jonas dachte? Oder würde der Tag Tag sein ohne Beobachtung, seiner reinen Existenz überlassen? Und - war es dann noch ein Tag? Gab es etwas Sinnloseres als so einen Tag?" - S. 149

"Er hatte oft über das Sterben nachgedacht. Monatelang vermochte er die schwarze Wand, die wartete, wegzuschieben, dann wieder kamen die Gedanken jeden Tag, jede Nacht.
Was war das, der Tod? Ein Scherz, den man erst danach verstand? Böse? Gut? Und wie würde es ihn treffen? Auf eine scheußliche Art oder auf eine gnädige? Würde eine Ader in seinem Kopf platzen, und würden ihm die Schmerzen den Verstand nehmen? Würde er ein Stechen in der Brust fühlen, einen Schlag, und umkippen? Würde er Krämpfe in den Gedärmen haben und sich aus Angst vor dem Bevorstehenden übergeben? Würde ihn ein Verrückter niederstechen, so daß er noch Zeit hätte zu begreifen, was mit ihm geschah? Würde ihn eine Krankheit martern, würde er mit dem Flugzeug vom Himmel fallen, mit dem Wagen gegen einen Pfeiler krachen? Fünf, vier, drei, zwei, eins, null? Oder fünf.vier.drei.zwei.eins.null? Oder fünfvierdreizweieinsnull?
Oder würde er alt werden und einschlafen?
Und gab es jemanden, der es jetzt schon wußte?
Und stand es jetzt schon fest? Oder konnte er noch etwas daran ändern?" - S. 276

"Liverpool.
Schon in seiner Kindheit hatte ihn dieser Ort beschäftigt. Nicht so sehr, weil er den Fußballverein nicht mochte. Auch nicht, weil es die Stadt der Beatles war. Sondern weil der Name der Stadt einen so merkwürdigen Klang hatte. Es gab Wörter, die sich beim Betrachten zu verwandeln schienen. Es gab Wörter, deren Sinn zu weichen schien, wenn man sie ansah. Es gab tote Wörter und lebendige. Liverpool war lebendig. Li-ver-pool. Schön. Ein schönes Wort. Wie auch, zum Beispiel, das All, als Bezeichnung für Universum verwendet. Das All. So klangvoll, so treffend. So schön." - S. 337


Es hat noch nie ein Buch geschafft, mich so wahnsinnig zu machen. Ich wusste teilweise nicht mehr, wo hinten und vorne ist. Ich traute mich teilweise nicht weiterzulesen. Und immer wieder stellte ich mir die Frage: Wie würde ich an Jonas Stelle handeln?
Glavinic ist toll, er hat geniale Gedanken und Einfälle und man kommt von seinen Buchseiten wirklich nur schwer los. Seine Worte beschäftigen einen lange. Deshalb ist er für mich (nach nur zwei Büchern schon) einer der Besten, ganz Großen.



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Genre: Roman
Verlag: dtv
Seiten: 396
Preis: € 10,20 (A) | € 9,90 (D)
ISBN: 978-3-423-13694-5

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